Fethullah Gülen hinterlässt nach seinem Tod ein zwiespältiges Erbe. Als Bildungsrevolution beginnend, entwickelte sich seine Bewegung zu einer mächtigen Organisation mit weltweitem Einfluss – und endete schließlich in einem Machtkampf mit Recep Tayyip Erdogan.
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Als „Prediger der islamischen Moderne“, würdigte Rainer Hermann in seinem Buch „Wohin geht die türkische Gesellschaft?“ den bereits damals in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen im Jahr 2008. Der langjährige Türkei-Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ war mit dieser Wertschätzung nicht allein, in den ersten Jahren dieses Jahrtausends, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, waren fast alle westlichen Beobachter geradezu vernarrt in die Aussicht auf eine Versöhnung des politischen Islams mit der Demokratie.
Die neue muslimische Elite war fromm und nur selten in der westlichen Kultur geschult. Aber, so glaubte man, sie war eben demokratisch. Zwei Namen standen für dieses Versprechen: Im Politischen Recep Tayyip Erdogan, dessen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) seit 2002 die Türkei regierte. Und ein Prediger namens Fethullah Gülen.
1941 in der ostanatolischen Provinz Erzurum geboren, bestritt Gülen einen traditionellen islamischen Bildungsweg. Mit zehn wurde er Hafiz, konnte also den gesamten Koran auswendig rezitieren, besuchte eine religiöse Privatschule und trat mit 18 eine Stelle als verbeamteter Imam an. Eine Universität hat er nie besucht.
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Schon früh betätigte er sich politisch. Anfang der 1960er-Jahre gründete er in seiner Heimatstadt den Ableger des „Vereins zur Bekämpfung der Kommunismus“ mit. Diese vom US-Geheimdienst CIA beeinflusste Organisation sollte sich bald zur Keimzelle des politischen Islams wie der ultranationalistischen, teils völkischen Grauen Wölfe entwickeln. Zugleich scheute der antikommunistische Verein nicht vor der Anwendung von Gewalt zurück.
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Fethullah Gülens Sache war Gewalt nicht. Die einzige Gewalt, für die er sich interessierte – und in seinem Sinne einsetzen wollte – war die Staatsgewalt. Doch genau das, ein ultrakonservativer, bis in die Kapillaren der Gesellschaft wirksamer, aber außenpolitisch mit der westlichen Welt kompatibler Islam, sollte sein Lebenswerk werden.
Mitte der 1960er-Jahre wurde Gülen in die westtürkische Metropole Izmir versetzt. Ab etwa 1969 begann er, seine eigene Gemeinschaft aufzubauen. Er verfolgte einen türkischen Nationalismus, predigte karitatives Engagement und „Dialog“ mit anderen religiösen Gruppen. Die eigentliche Besonderheit: Er hatte einen Plan, wie er Staat und Gesellschaft umkrempeln wollte. „Baut keine Moscheen, baut Schulen“, predigte er. Was westliche Beobachter gern als Wertschätzung der Bildung interpretierten, war in Wirklichkeit ein Plan zur Herausbildung einer eigenen Elite.
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Die Bildungseinrichtungen der Gülen-Organisation sollten zu Kaderschmieden werden, um die eigenen Gefolgsleute in den Schaltstellen der Macht zu platzieren. Den Militärputsch von 1980 bestand die Organisation recht unbeschadet. 1981 quittierte Gülen den Staatsdienst, seine Organisation war nun groß genug – und er Anführer einer Sekte mit treu ergebenen Anhängern.
Tatsächlich schritt in den 1980er- und 1990er-Jahren die Islamisierung voran – allerdings zunehmend außerhalb der Kontrolle der Militärs. Necmettin Erbakan, Anführer der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung und Ministerpräsident einer Koalitionsregierung, wurde 1997 von den Militärs aus dem Amt gedrängt. Auch sein politischer Ziehsohn Recep Tayyip Erdogan wurde als Oberbürgermeister von Istanbul abgesetzt.
Die Gülen-Organisation kam abermals glimpflich davon. Dennoch setzte sich Fethullah Gülen Anfang 1999 sicherheitshalber in die USA ab und schlug in Saylorsburg im Bundesstaat Pennsylvania sein neues Hauptquartier auf. In die Türkei sollte er nie wieder zurückkehren.
Aufstieg der Gülen-Bewegung
Zu Erbakan und dessen Parteien hatte Gülen stets Distanz gehalten. Dies änderte sich erst, als Erdogan und die Seinen die AKP gründeten. Erdogan brachte die Massen mit, Gülen die Kader. „Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, könnte man sagen. Aber nur fast. Tatsächlich wurden die Kontakte zwischen dem AKP-Personal und den Gülen-Leuten enger. Zahlreiche führende AKP-Politiker suchten die Nähe zur Gülen-Organisation, deren Anhänger wiederum auf dem Ticket der AKP ins Parlament gewählt wurden. Doch für die Gülenisten waren Parlamentssitze oder Ministerposten nicht vorrangig. Für sie waren die Schaltstellen in Justiz, Verwaltung und Militär wichtiger, die nötig sind, um Politik in Realität umzusetzen. Erdogan gab ihnen bereitwillig diese Posten.
Mit dem wachsenden Einfluss im Staatsapparat wurde die Gülen-Organisation – begünstigt durch staatliche Aufträge – zu einer wirtschaftlichen Macht. Ihr nahestehende Unternehmer führten einen großen Teil ihrer Gewinne an die Organisation ab, die längst auch außerhalb der Landesgrenzen agierte. Damit wurde die Gülen-Organisation das politisch, wirtschaftlich und ideologisch einflussreichste Netzwerk seit dem Templerorden im Europa des Hochmittelalters.
Freunde wurden Fethullah Gülen und Recep Tayyip Erdogan dennoch nie. Vielleicht, weil sie charakterlich nicht zueinander passten – hier der sentimentale, aber auch honorige und ruhige Prediger, dort der proletarisch-draufgängerische Politiker. Doch ausschlaggebend dafür, dass beide selbst zu Zeiten ihrer engsten Zusammenarbeit persönlich Distanz zueinander hielten, war etwas anderes: der ausgeprägte Machtinstinkt, den sie beim jeweils anderen erkannten, und der sie misstrauisch bleiben ließ.
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Ab 2007 unternahm das „Ancien Régime“ einen letzten Versuch, Erdogan und seinen Verbündeten Fethullah Gülen zu verdrängen, unter anderem mit einem denkbar knapp gescheiterten Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht. Auf diese letzte Offensive folgte der Gegenschlag: allen voran eine Serie von Verhaftungen und Prozessen, die unter dem Namen „Ergenekon“-Prozesse bekannt wurden. Man wolle mit den illegalen Machenschaften im alten Staatsapparat aufräumen, hieß es zur Begründung. Tatsächlich schickte sich die Gülen-Organisation an, diesen Staat im Staate zu übernehmen, es entwickelten sich schon bald kriminelle Machenschaften.
Zugleich wollte man den vorpolitischen Raum erobern. Neben Figuren aus den Reihen des Militärs wurden auch Journalisten und Vertreter von NGOs verhaftet, die den Gülenisten im Weg standen.
Von Weggefährten zu erbitterten Feinden
Doch kaum war der gemeinsame Feind entmachtet, begann der Verteilungskampf. Im Vorfeld der Parlamentswahl vom Juni 2011 gab es etwa Kämpfe um die Plätze auf AKP-Listen. Es knallte, erst hinter den Kulissen, dann mehr und mehr vor aller Augen. Im Dezember 2013 folge der offene Bruch, nachdem im Rahmen einer Korruptionsaffäre zahlreiche Regierungspolitiker und andere Personen aus dem Umfeld von Erdogan verhaftet wurden. Interna aus Erdogans engstem Zirkel wurden an die Öffentlichkeit lanciert. Staatsanwälte und Polizisten handelten nicht als unabhängige Ermittlungsbehörden, sondern auf Anweisung der Gülen-Organisation. Neben begründeten Korruptionsvorwürfen stand dahinter auch der Versuch, Erdogan öffentlich zu diskreditieren und für seine Abwahl zu sorgen.
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Die Gülen-Organisation war also weitaus mächtiger als vereinbart worden war. Und aus Weggefährten waren Feinde geworden. „Was habt ihr denn verlangt, was wir euch nicht gegeben hätten?“, sagte Erdogan, der trotz aller Spannungen mit einem solchen Schlag nicht gerechnet hatte.
Zweieinhalb Jahre später, im Juli 2016, folgte dann ein offener Putschversuch gegen die Regierung. Anders als Fethullah Gülen bis zuletzt beteuerte, war seine Organisation daran maßgeblich beteiligt. Zugleich sprechen viele Indizien dafür, dass Erdogan über die Vorgänge vorab im Bilde war. Es gab eine Intrige innerhalb der Intrige, Verrat innerhalb des Verrats, mehr lässt sich bis heute nicht mit Gewissheit sagen.
Erdogan nutzte den Putschversuch als „Gunst Allahs“, um endgültig eine Autokratie zu errichten und politische Gegner zu verfolgen. Neben Kurden und Linken traf es besonders die Gülen-Organisation, die zur terroristischen Organisation erklärt wurde. Es traf nicht nur Anhänger, die mutmaßlich am Putschversuch beteiligt waren, sondern alle, die nicht rechtzeitig den Absprung geschafft hatten.
Auch die Zerschlagung und Enteignung der Organisation glich der Entmachtung des Templerordens im frühen 14. Jahrhundert durch den Papst und die französische Krone. Ohne Scheiterhaufen, aber mit lebenslangen Haftstrafen. Das Führungspersonal der Sekte hatte sich bereits ins Ausland abgesetzt, auch nach Deutschland, vor allem aber in die USA.
Die lehnten alle Auslieferungsanträge ab. In Staaten, in denen der türkische Einfluss groß genug war, wurden Schulen und andere Einrichtungen der Gülen-Organisation geschlossen. Die Organisation ist seither in der Türkei faktisch zerschlagen und kämpft im Exil um ihre Existenz – auch gegen innere Absetzungsbewegungen. Denn immer mehr Anhänger begannen, Gülens Unschuldsbeteuerungen im Zusammenhang mit dem Putschversuch zu bezweifeln. Zuletzt hielt nur noch der charismatische Großmeister seine Organisation zusammen.
Am Sonntag ist Fethullah Gülen nach langer Krankheit im Alter von 83 Jahren in Pennsylvania gestorben. Dass seine Organisation seinen Tod lange überdauern wird, ist unwahrscheinlich. Dafür haben zu viele Unschuldige einen zu hohen Preis dafür bezahlt, an die Lehren dieses Predigers geglaubt zu haben.