Türkei: Erdogans Erzfeind Fethullah Gülen ist tot. Wer war der Prediger? (2024)

Spätestens seit dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 spaltete Gülen die Geister: Für die einen war er ein Erneuerer des Islam, für die anderen ein Sektenführer mit geheimer Agenda. Nun ist Gülen im Alter von 83 Jahren im amerikanischen Exil gestorben.

Ulrich von Schwerin

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Türkei: Erdogans Erzfeind Fethullah Gülen ist tot. Wer war der Prediger? (1)

Schon seit Jahren trat Fethullah Gülen kaum noch in der Öffentlichkeit auf, gab nur noch selten Interviews und verliess so gut wie nie sein Anwesen in Pennsylvania, wo er seit 1999 im selbstgewählten Exil lebte. Der islamische Prediger war in den letzten Jahren vom Alter gebeugt und von langer Krankheit gezeichnet – die Stimme schwach und schwere Tränensäcke unter den müden Augen. Und doch verfügte der Imam bis zuletzt über eine weltweite Gefolgschaft und galt als eine der einflussreichsten Figuren der islamischen Welt.

Am Montag nun ist der Prediger im Alter von 83 Jahren im Spital in Pennsylvania gestorben. Während seine Anhänger in aller Welt mit Bestürzung auf das Verschwinden ihres spirituellen Führers und verehrten Lehrers reagieren dürften, wird die türkische Regierung von Recep Tayyip Erdogan wohl Genugtuung über das Ableben des Mannes empfinden, den sie als Drahtzieher des gescheiterten Militärputsches vom 15.Juli 2016 betrachtet.

Dass Gülen sein Leben als Staatsfeind beenden würde, war lange nicht absehbar. Geboren 1941 in einem Dorf im Osten der Türkei als Sohn eines örtlichen Imams, besuchte Gülen zunächst eine Grundschule, bevor er an ein Predigerseminar wechselte. Früh wurde er durch die Lehren des Sufi-Predigers Said Nursi geprägt, der für die Versöhnung des Islam mit der modernen Wissenschaft eintrat. So plädierte Nursi dafür, dass der Islam an säkularen Schulen gelehrt werde und die Natur- und Geisteswissenschaften an religiösen Schulen.

Kleidung, Lektüre, Besuch – alles klar geregelt

Als Gülen 1966 als Imam in die westtürkische Küstenstadt Izmir zog, machte er sich daran, eine eigene religiöse Bewegung aufzubauen. In ihrem Zentrum standen «isik evleri» (Lichthäuser) genannte Wohngemeinschaften, in denen junge Studenten zusammen leben und lernen konnten. Bei konservativen Muslimen erfreuten sich die Einrichtungen rasch grosser Beliebtheit, da ihre Söhne und Töchter dort vor den Gefahren und Versuchungen der Grossstadt geschützt waren.

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Noch heute bilden die «isik evleri» die Kernzellen der Bewegung. Ehemalige Mitglieder berichten, Frauen und Männer lebten dort streng nach Geschlechtern getrennt unter der Aufsicht eines älteren Bruders («abi») oder einer älteren Schwester («abla»). Abends gälten strenge Schliesszeiten, Besuch von Angehörigen des anderen Geschlechts sei verboten. Die Teilnahme an den «sohbet» genannten Lesekreisen sei obligatorisch. Was dabei studiert werde, sei klar geregelt.

Auch Gülen selbst gab solche «sohbets», bei denen anhand ausgewählter Schriften im kleinen Kreis über religiöse Themen diskutiert wurde. Oft brach er dabei in Tränen aus, wie auf alten Videos zu sehen ist. Für viele säkulare Türken war der schluchzende Imam lange nur ein weiterer Sufi-Prediger – reaktionär und etwas lächerlich. Erst als seine Hizmet-Bewegung, wie sich die Bruderschaft selber nannte, immer grösser wurde, horchten die Kemalisten auf.

«Ihr müsst euch in den Arterien des Systems bewegen, ohne dass jemand eure Anwesenheit bemerkt, bis ihr alle Machtzentren erreicht habt.»

In den frühen achtziger Jahren eröffnete Gülen neben den Lichthäusern vermehrt auch Schulen. Ihre Gründung wurde damals unterstützt von der Militärregierung, die durch den Militärputsch 1980 an die Macht gelangt war. Sie förderte gezielt islamische Bruderschaften wie die Gülen-Bewegung als Gegengewicht zu den Linken, die das Militär im Kalten Krieg als Gefahr betrachtete. Auch später arbeitete Gülen eng mit den jeweiligen Regierungen in Ankara zusammen.

Nicht zuletzt dank ihrer Verbindungen in die Politik expandierte die Gülen-Bewegung rasch. Schon vor dem Amtsantritt von Erdogans islamisch-konservativer Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2002 gründeten Gülens Anhänger erste Schulen auf dem Balkan, in Afrika und Südasien. Unterstützt wurde die auch «cemaat» genannte Bruderschaft dabei von der aufstrebenden muslimischen Mittelschicht, die die Schulen nutzte, um ihre wirtschaftlichen Kontakte auszubauen.

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Die wachsende Macht der «cemaat» war den Kemalisten suspekt, und als 1999 eine Audioaufnahme an die Öffentlichkeit gelangte, in der Gülen seine Anhänger aufrief, «sich durch die Arterien des Systems zu bewegen», bis sie «alle Zentren der Macht erreicht» haben, erhob die Justiz Anklage gegen Gülen. Da war er aber bereits in die USA geflogen – offiziell zur medizinischen Behandlung. Obwohl die AKP den Prozess später einstellte, kehrte er nie mehr zurück.

Erdogan und Gülen Hand in Hand

Als Erdogans Partei 2002 an die Regierung gelangte, ging sie mit Gülens Bewegung eine informelle Koalition ein. Ihre gut ausgebildeten Anhänger halfen der AKP, die Kemalisten aus Justiz, Militär und Verwaltung zu verdrängen. Dafür förderte die Regierung die Gülen-Schulen im In- und Ausland und vergab gezielt Aufträge an Firmen der Bewegung. Auch wenn Erdogan selbst nie zu Gülens Anhängern gehörte, arbeiteten die beiden Männer lange Hand in Hand.

Am Höhepunkt ihres Bündnisses vor 2013 betrieb die «cemaat» in der Türkei Hunderte Schulen, Wohnheime und Nachhilfeeinrichtungen. Zudem unterhielt sie ein weitgespanntes Netzwerk aus Firmen und Medien, darunter die Bank Asya und die auflagenstärkste Zeitung des Landes, «Zaman». Schon früh wiesen Oppositionspolitiker und Journalisten darauf hin, dass eine islamische Sekte dabei sei, den Staat zu unterwandern. Doch wollte Erdogan davon nichts hören.

Stattdessen wurden der investigative Journalist Ahmet Sik und der Polizist Hanefi Avci wegen ihrer Enthüllungen über die Bewegung ins Gefängnis gesteckt. Mithilfe von Gülen-nahen Richtern und Staatsanwälten wurden zudem in den berüchtigten Ergenekon- und Balyoz-Prozessen ab 2008 Hunderte kemalistische Offiziere, kritische Intellektuelle und unliebsame Politiker vor Gericht gestellt, um so die Macht des alten Establishments zu brechen.

Nur ein Verein für Dialog und Bildung?

Wie viel Gülen mit diesen Vorgängen zu tun hatte, ist umstritten. Der greise Prediger bestritt stets, Einfluss auf die türkische Politik zu nehmen. Zudem behauptete er, nur ein spiritueller Lehrer zu sein ohne konkrete Macht über seine Anhänger. Eigentlich gab es laut seiner Darstellung gar keine Gülen-Bewegung. Vielmehr sei diese nur ein loses Netzwerk frommer Muslime, die inspiriert durch seine Ideen eigene Schulen und Wohnheime gegründet hätten.

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Kritiker widersprachen entschieden dem Bild der «cemaat» als frommer Graswurzelbewegung für interreligiösen Dialog und Bildung. Vielmehr handle es sich um eine hierarchisch strukturierte, autoritär geführte Organisation mit Gülen an der Spitze. Für jedes Viertel, jede Stadt und jedes Land gab es laut Insidern einen «Imam», der der nächsthöheren Instanz Bericht erstattete und Anweisungen erhielt.

Auch wenn Gülen nach aussen einen moderaten Islam predige, seien die Wertvorstellungen im Innern zutiefst konservativ, betonten die Kritiker. Zwar würden an den Gülen-Schulen westliche Sprachen und moderne Wissenschaften unterrichtet, doch in den Lichthäusern und den Lesekreisen herrsche ein traditionelles Islamverständnis vor. Auch würden Mitglieder verpflichtet, einen Anteil ihres Einkommens zu zahlen, so dass die Bewegung über riesige Einnahmen verfüge.

Vom Streit über die Macht zum Putsch

Über die Jahre wurde die «cemaat» immer mächtiger, bis es 2013 zum Bruch mit Erdogan kam. Was genau zu dem Zerwürfnis führte, ist bis heute umstritten. Obwohl Gülen und Erdogan in vieler Hinsicht die gleiche Weltsicht und die gleichen Wertvorstellungen teilten, gab es doch Differenzen. So lehnte Gülen eine Annäherung an Iran sowie einen Bruch des Bündnisses mit Israel ab. Vor allem aber war er gegen den Friedensprozess mit den Kurden.

Erste Anzeichen für Spannungen gab es im Februar 2012, als die Staatsanwaltschaft kurzzeitig den Geheimdienstchef Hakan Fidan festnehmen liess, der geheime Verhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geführt hatte. Erdogan war erbost und liess die Nachhilfeschulen der «cemaat» schliessen. Im Dezember 2013 eskalierte dann der Machtkampf, als Staatsanwälte Korruptionsermittlungen gegen Politiker und Geschäftsleute aus Erdogans Umfeld einleiteten.

Der AKP-Chef sah dies als Umsturzversuch und liess Hunderte Richter, Staatsanwälte und Polizisten entlassen oder versetzen. Für August 2016 war eine weitere Säuberungswelle in der Armee geplant, doch kam es nicht dazu. Denn am Abend des 15.Juli 2016 erhob sich eine Gruppe Offiziere gegen die Regierung. Die Polizei widersetzte sich jedoch, und Hunderttausende strömten einem Aufruf Erdogans folgend auf die Strassen und Plätze. Der Militärputsch scheiterte.

Noch in der Nacht machte Erdogan die Gülen-Bewegung für den Umsturzversuch verantwortlich und ordnete die Entlassung Tausender Staatsanwälte an. Gülen bestritt in Interviews jede Verwicklung und verurteilte den Putschversuch. Welche Rolle seine Anhänger spielten, ist ebenso ungeklärt wie was genau in jener Nacht geschah. Bis heute bleibt der Verdacht, dass Erdogan vorab über die Pläne der Putschisten informiert war und sie bewusst ins offene Messer laufen liess.

Ein Putschist zu Besuch in Pennsylvania

Allerdings ist nicht nur die AKP überzeugt, dass Gülen und seine Bewegung hinter dem Putschversuch steckten, auch die säkulare und nationalistische Opposition teilt diese Ansicht. Mit Adil Öksüz existiert tatsächlich eine konkrete Verbindung zu Gülen: Der Theologiedozent wurde am Morgen nach dem Putschversuch in der Nähe des Luftwaffenstützpunkts festgenommen, auf dem die Putschisten ihr Hauptquartier hatten, bevor er freikam und untertauchte.

Öksüz soll als «Imam» der Luftwaffe der informelle Kommandant der Gülen-Bewegung für die Teilstreitkraft gewesen sein. Die Regierung legte später Dokumente vor, die zeigten, dass Öksüz mit einem anderen Putschistenführer Tage vor dem 15.Juli in die USA geflogen war – angeblich, um letzte Anweisungen bei Gülen in Pennsylvania zu holen. Gülen bestätigte zwar später, Öksüz zu kennen, betonte aber, dies sei keineswegs ein Beweis für seine Verwicklung.

Acht Jahre nach dem Putschversuch scheint es ungewiss, dass die Hintergründe jemals aufgeklärt werden. Klar ist jedoch, dass dieser ein willkommener Anlass für Erdogan war, mit der Gülen-Bewegung aufzuräumen, die er schon nach den Korruptionsermittlungen 2013 zur Terrororganisation erklärt hatte. In den Jahren nach dem Putschversuch wurden mehr als 140000 Gülen-Anhänger aus Polizei, Justiz, Militär und Verwaltung entlassen und über 50000 inhaftiert.

Politisch motivierte Hexenjagd

Während Tausende Anhänger der «cemaat» ins Ausland flohen, viele von ihnen nach Deutschland, forderte die türkische Regierung von den USA die Auslieferung Gülens. Die Regierung von Barack Obama sagte eine Prüfung des Falls zu, wenn Ankara gerichtsfeste Beweise für Gülens Schuld vorlegte. Zwar schickte die Türkei nach eigener Aussage kistenweise Dokumente nach Washington, doch zur Empörung Erdogans kam es nie zu einem Auslieferungsverfahren.

Nicht nur in den USA wurde das Vorgehen gegen Gülen und seine Bewegung als politisch motivierte Hexenjagd betrachtet. Zweifellos war die Entlassung Tausender Lehrer, Beamter und Polizisten ohne erkennbare Verbindung zu den Putschisten in keiner Weise gerechtfertigt. Auch verstiessen die Massenprozesse gegen alle rechtsstaatlichen Standards. Doch so exzessiv und paranoid das Vorgehen war, zeigt es auch, wie sehr Erdogan den alten Prediger fürchtete. Bis zuletzt.

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